Online Lehre

Open Book Prüfungen? Nicht nur bei Schummel-Paranoia angesagt

Studentin mit 4 Armen am vollen Schreibtisch

Prüfungen an den Hochschulen wurden in den letzten Monaten auf einen Schlag digitalisiert und online abgewickelt. Nicht ohne eine gehörige Portion an Schummel-Paranoia seitens konservativer Bildungsbehörden und der Fernlehrskeptiker_innen sowieso. Diverse Verordnungen, Richtlinien und Rückfragen seitens studienrechtlich verantwortlicher Stellen machen sichtbar, dass vielerorts scheinbar mehr und öfter darüber nachgedacht wird, wie das Schummeln von Studierenden verhindert und aufgedeckt werden kann, als darüber, wie sinnvolle Prüfungen und Prüfungsaufgaben erstellt werden können. 

Procter Systeme – das Ausleuchten des Wohnzimmers mit der Kamera – audiovisuelle Überwachung und Analysen mittels Künstlicher Intelligenz sind beliebte Diskussionsthemen. Unweigerlich geistern da Erinnerungen an Foucaults Buch „Überwachen und Strafen“ durch meinen Kopf. Das kann doch nicht „Lernen und Prüfen“ im Jahr 2020 sein!

Was Prüfungen betrifft ist es derzeit jedenfalls so: Wenn vorher Wissensüberprüfung vermeintlich streng kontrolliert werden konnte und die Aufsichtspersonen – bemüht neutral dreinblickend – durch die freien Reihen des Hörsaals patrouillierten, sitzen heute viele Studierende zuhause, vielleicht sogar mit ihrem Notebook im Doppelbett, neben dem Gitterbett im Schlafzimmer oder aber hoffentlich an ihren Schreibtischen im halbwegs ruhigen Arbeitszimmer, und legen online schriftliche Prüfungen ab. 

Wie das möglich ist? Mit Open Book Prüfungen, einer Form der Prüfungsgestaltung, die bei innovativen Lehrenden schon lange einen fixen Platz in der Lehre haben. Weil sie sinnvoll sind. Sie zeigen, ob Studierende Fähigkeiten erworben haben, die über stures Pauken und Auswendiglernen weit hinausgehen. In Open Book Prüfungen wird nach Lösungen für realitätsnahe Problemstellungen gefragt, die nur entwickelt werden können, wenn Studierende über fundiertes Wissen verfügen und dieses auch eigenständig und kritisch miteinander vernetzen können. Logisch, dass dabei Nachschlagen in Büchern, Skripten oder Mitschriften in der Prüfungssituation zugelassen ist. Genauso, wie das im beruflichen Alltag der Fall wäre.

Bei Open Book Prüfungen sind die erlaubten Hilfsmittel vorab festgelegt und allen bekannt. Studierende können eine solche Prüfung aber nur bestehen, wenn Sie das grundlegende fachliche Wissen, vielleicht sogar im Schlaf, abrufen könnten. Sollte aber ein Detail, eine Kleinigkeit, eine Formel für den Lösungsweg fehlen, dann ist es erlaubt diese Information rasch nachzuschlagen. Genauso, wie das im beruflichen Alltag der Fall wäre.

Das ist auch die Grundidee von Open Book Prüfungen.

Das Positive: Open Book Prüfungen befeuern eine neue Lehr-Lernkultur

  • Studierende werden und sollen sich nicht auf das auswendig lernen fixieren. Wenn man von fünf Elementen eines Modells eines nicht frei abrufen kann, ist das nicht tragisch. Das nimmt Angst und gibt Sicherheit.
  • „Bulimie-Lernen“ wird verhindert und Wissen wird langfristig abgespeichert: Wer kennt nicht das Phänomen, dass in der knappen Zeit kurz vor der Prüfung noch große Stoffmengen in das Hirn hineingestopft, bei der Prüfung einiges wieder ausgespuckt und schon nach ein paar Tagen das Wissen nicht mehr abgerufen werden kann?  
  • Studierende werden mehr am Verstehen arbeiten, sich stärker an den Lernzielen orientieren und fragen: Was sollte ich nach einer Lehrveranstaltung können? Und nicht: Was muss ich für die Prüfung wissen?
  • Lehrende werden ihre Aktivitäten und Aufgaben stärker nach den vereinbarten Lernzielen ausrichten. Zentraler Fokus wird, was die Studierenden am Ende der Lehrveranstaltung können sollen und nicht, welche Inhalte in diesem Fach unbedingt durchgenommen werden sollen.
  • Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass allein eine Prüfungsmethode zu einer Veränderung im Lehr- und Lernprozess beitragen kann. Dazu will ich ein anderes Mal gern mehr berichten.

Das Schwierige: Open Book Prüfungen verringern nicht den Lernaufwand und erfordern profundes Fachwissen

Die Prüfungszeit ist beschränkt, aber vor der Prüfung ist viel mehr Zeit als in der Prüfung.

Studierende dürfen jederzeit nachschauen, wenn Sie etwas nicht wissen. Und das ist auch die größte Falle, in die sie anfangs tappen. Wissensbestände nicht verknüpft, nicht hinterfragt, mit niemandem darüber geredet, niemals an einem Beispiel angewendet, niemandem erklärt und nicht verstanden? Dann wird die Zeit schon um sein, wenn die Beantwortung der ersten Frage gerade fertig ist. Nachschlagen kostet Zeit und der Umstand, dass es erlaubt ist, kann dazu führen, dass sich Studierende schlechter vorbereiten und weniger lernen. Dass sie dann bei Open Book Prüfungen schlechter abschneiden, zeigen leider auch neue Studien (zB. Rummer, Schweppe & Schwede, 2019).

Antworten zu Open Book Prüfungsfragen sind nicht einfach an einem Ort in den Unterlagen, auch nicht im Internet zu finden.

Genauso ist es in der beruflichen Praxis: klar kann man alles nachschlagen, aber ob das in der letzten Verhandlungsrunde mit einer wichtigen Firmenpartnerin oder bei der Präsentation angesagt ist, in der die Geschäftsergebnisse zur Sprache kommen, sei dahingestellt. Auch wer sich mit seinen Argumenten in vielfältigen Arbeitsituationen durchsetzen will, oder eine andere Person in einer konkreten Sache gut beraten will, muss auf eine Fülle von Wissen aus dem Stegreif zurückgreifen können; muss verschiedene Wissensbestände anzapfen und verknüpfen und auf ein bestimmtes Problem umlegen und Alternativen aufzeigen können. Ist das nicht gerade der Unterschied zwischen wissenden und gebildeten Menschen?

Die Schwierigkeit von Open Book Prüfungsfragen ist hoch.

Die Vorbereitung auf Open Book Prüfungen muss geübt werden. Es fällt Studierenden nach jahrelangem Üben des Auswendig-Lernens vermutlich leichter, eine Reihe von Fakten aus dem Gedächtnis abzurufen und aufzuzählen, als ein Modell konsequent an einem konkreten Beispiel logisch und nachvollziehbar zu erklären. Oder: Fünf Vokabeln in einer Fremdsprache zu lernen ist einfacher, als einen sinnvollen Text mit diesen fünf Wörtern zu schreiben. Ich habe nicht erst einmal von Studierenden gehört, dass Sie „normale Wissensprüfungen“ einfacher erleben als die Ausarbeitung von Aufgaben und Fallbeispielen im Rahmen immanenter Leistungsüberprüfungen. Auch die Lehrenden sind gefordert: Weder die Entwicklung der Prüfungsaufgaben noch die Korrektur der individuellen Lösungswege ist einfach und bedeutet erst einmal Umstellung und zusätzlichen Aufwand.

Tipps zum Mitnehmen: Wie sich Studierende gut auf Open Book Prüfungen vorbereiten können

Verstehe die Fakten zu den Erwartungen:

  • Welche Art von Fragen kommen zur Prüfung (MC-Fragen, Kurzantworten, Fallanalysen mit Wortbegrenzungen)? Wie viele Fragen kommen und wie umfassend sollen Antworten sein?
  • Wie lange habe ich insgesamt Zeit und welche Materialien darf ich verwenden? Müssen Quellen angeführt werden?

Investiere in die perfekte Vorbereitung der Hilfsmittel:

  • organisiere Hilfsmittel mit System, um die gesuchten Informationen schnell zu finden: nach Kapitel, nach Themen, nach möglichen Anwendungsbeispielen 
  • Post-its nutzen und alle Bücher oder Skripten damit farbig bestücken
  • Schlüsselwörter im Text markieren oder Kommentare an den Rand schreiben

Erstelle kompakte Zusammenfassungen der Inhalte:

  • Dinge, die man sich schwer merken kann und die man sonst auf Schwindelzettel schreibt
  • Handschriftliches Zusammenfassen wirkt übrigens zusätzlich lernförderlich! (Hotz, 2016)

Nutze den positiven Testeffekt:

  • Wir lernen schneller, wenn wir uns selbst testen oder uns gegenseitig abfragen (Argawal et al, 2017): also lieber Quizzes und Karteikarten bearbeiten oder anderen Inhalte anhand eines Beispiels erzählen als den Text ständig wiederholen und lesen.

Entspann Dich:

  • weil es nicht entscheidend ist, ob einem von 7 Sachen einmal nur 6 einfallen.
  • Genauso wie das im beruflichen Alltag der Fall ist!

Quellen und Empfehlungen zum Weiterlesen:

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