Martha B. sitzt vor ihrem Computer irgendwo in den Tiroler Bergen und absolviert eine Online-Prüfung. Die Kinder hat sie ins Nebenzimmer verbannt. Herbert R. sitzt in seinem Rollstuhl im Büro eines Rundfunksenders. Er hat gerade Mittagspause und liest seine Seminararbeit nochmal durch. Elisabeth K. sitzt im Zug und lässt sich mit einem Audio App ihre Studienhefte vorlesen. Sie ist auf dem Weg zur Beratungsstelle des Sehbehindertenverbands um sich Tipps für ihr neues Bildschirmlesegerät zu holen.
Das sind nur wenige Beispiele für Lebenssituationen, in denen ein traditionelles Studium nicht in Frage kommt.
Viele potenzielle Studierende:
- leben nicht in der Nähe von Hochschulzentren und können neben dem Beruf auch nicht dreimal abends und am Wochenende zu ihrer FH fahren.
- sind chronisch krank oder leben mit einer Behinderung oder sprechen nicht perfekt Deutsch.
- bevorzugen sich selbstgesteuert und zeitlich unabhängig ihren Studien zu widmen.
- müssen arbeiten und haben zudem Betreuungspflichten für Kinder oder andere Personen.
JA! Ein Fernstudium kann tatsächlich Bildungsbarrieren abreißen
Flexibilität und die Öffnung der Hochschulen für nicht-traditionelle Studierende sind spätestens jetzt nicht mehr nur Schlagworte oder das Thema für innovative Bildungsprojekte (Beispiel Deutschland: „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“). Auch die österreichischen Hochschulen haben seit Beginn der COVID-19-Zeit vielfach gezeigt: Es ist gut möglich, Studieren über das Internet zu ermöglichen und es gelingt unter anderem, Mobilitätseinschränkungen zu überwinden. Aber kann die Abwicklung des Studiums im Internet, die Angebote von Distance-Learning und „Home-Studying“ auch tatsächlich bei der Beseitigung gesellschaftlicher Ungleichheit helfen, wenn wir genauer hinsehen?
NEIN! Flexibilität und Öffnung sind notwendig, aber lange noch nicht ausreichend
Im Rahmen der COVID-19-Aktivitäten wurde rasch klar, dass viele soziale Probleme und strukturelle Benachteiligungen sogar verstärkt werden können. So zeigte sich, dass Home-Studying und Home-Schooling die bestehende Benachteiligung von Frauen sogar verfestigt und zu Überlastung führt, weil „nebenbei“ noch Hausarbeit und Kinderbetreuung zu schaffen sind (vgl. Studie der WU Wien). Auch werden Leute benachteiligt, die nicht genug Geld in modernste Ausrüstung und eine fette Breitbandversorgung investieren können (ein noch größeres Thema in vielen Ländern außerhalb Europas) und es gibt viel Nachholbedarf bei den digitalen Kompetenzen: Viele, und es sind keinesfalls nur „die älteren Personen“, brauchen Unterstützung, um mit den Medien im Distance-Learning überhaupt zurecht zu kommen.
Was sind Pflastersteine auf dem Weg zur Chancengleichheit?
- Der Fokus liegt auf der Vielfalt konkreter Bedürfnislagen von Studierwilligen (mehr dazu im Blogbeitrag von Ingrid Wahl) bei der Gestaltung neuer Studienangebote und der Online-Lehre
- Es werden mehr asynchrone und weniger synchrone Lehreinheiten angeboten – also weniger “same time & same place”-Lehre
- Lerninhalte werden über verschiedene Kanäle zugänglich gemacht (Texte, Video, Audio, usw.), denn die Technologie darf nicht der neue Treiber für Ungleichheit sein. Ein störungsanfälliger Livestream soll lieber durch Texte und andere datensparende Alternativen begleitet oder gar ersetzt werden.
- Lebendiger Austausch und Dialog, die unmittelbare Beantwortung von Fragen und mehr Mut zu „altmodischen“ Texten statt eindimensionaler Videos (ohne Transkript), abgefilmte Präsenzvorlesungen und besprochene Powerpoint-Folien, in denen sich Lehrende schulmeisternd positionieren.
- Persönliche Treffen haben einen zentralen Stellenwert und Räume für die persönliche und reale Begegnung sind fixer Bestandteil des Blended Learning (mehr dazu im Blogbeitrag von Herbert Schwarzenberger).
- Studienzeiten sind flexibel: Es soll (wieder) möglich sein, so schnell oder so langsam wie erforderlich zu studieren, Pausen einlegen zu dürfen, die schon mal einen Monat dauern, weil das Kind gerade in der Trotzphase steckt und die Oma krank ist.
- Ein laut hörbares politisches JA zu mehr bundesgeförderten Fernstudienplätzen, denn das „Ja“ zur Umsetzung von E-learning an den Hochschulen greift eindeutig zu kurz. Das zeigt sich etwa ganz deutlich in dem Ausmaß, in dem individualisierte und zeitlich flexible Angebote im Online-Studiensektor auf den privaten Bildungsmarkt ausgelagert werden: Also dahin, wo finanzielle Hürden erst recht wieder Ungleichheit schaffen.
Bleiben wir also auch nach der COVID-19- und „emergency remote teaching“-Zeit dran am Blended Learning, auch wenn die Hochschulen ihre physischen Türen vielleicht bald wieder weit aufmachen. Es geht um die Entwicklung neuer Formen des Lernens und Lehrens abseits der Notfallszenarien, in denen Chancengleichheit und akademische Bildung für alle nicht nur Schlagworte sind.